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Hier ein kurzer Abschnitt aus der Mitte heraus

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Er sieht den Schnee nicht, der leise in der dunklen, kalten Nacht auf ihn herabrieselt, und spürt die Kälte und Nässe nicht, die seine dürftige Kleidung durchdringt.

 

Der Schnee, die Winde, das Heulen – all das waren für ihn Wesenheiten, mit denen er in Verbindung stand. Die Natur hat ihre eigene Sprache, die sich ihm mit all ihren Geistwesen nach und nach erschloss. Ayatéh lernte schon früh diese Sprache kennen und vor nichts fürchtete er sich, denn alles hatte für ihn eine Bedeutung.

Nichts war unnütz, nicht einmal das, was die bilagaana Unkraut nennen. Ob es die Kräuter oder die Schafe seines Vaters waren, deren Gesundheit lebenswichtig war, der wolkenlose Himmel des Sommers, der keinen Regen mit sich brachte, oder die dunklen, kalten Nächte des Winters – mit all dem fühlte er sich von Kindheit an verbunden. Er war vertraut mit dem, was er wahrnehmen konnte und öffnete sich ihnen mit seinen Sinnen.

 

Doch nach dem schrecklichen Erlebnis entfernte er sich unbewusst von seinen Gefühlen, die ihm plötzlich fremd wurden und von seinen Visionen, aus denen er Kraft und Halt schöpfte. Irgendwann wurde alles bedeutungslos.

 

Seine Haare werden umhüllt von einer weißen, kristallenen Eisschicht. Der Wind, der dieses Eis mit sich trägt, streift sein Gesicht, um tief in seine Seele zu dringen.

 

Die Landschaft seiner Seele ist nicht sanft, sie besteht aus atemberaubenden Gipfeln und tiefen dunklen Tälern, die ihn mit den Gefühlen eines Adlers im Flug vertraut gemacht hatten, der unter sich die Weite und Freiheit spürt.

Doch es ist die Ohnmacht dieses Vogels, die Ayatéh empfindet, als er mit gebrochenen Flügeln den Himmel nicht mehr erreichen konnte, und ihn resignieren lässt.

 

Langsam sickert die Nässe vom Schnee durch die Jacke, bis sie seinen Körper erreicht. Doch er spürt es nicht mehr. Er spürt nicht mehr die kalten Hände, die im Schmutz des Straßenrandes liegen, von der Kälte steif gefroren. Sein Gesicht, auf dem harten Boden zeigt keine Regung. Während der Schnee in dicken Flocken auf ihn niederrieselt, um ihn ganz einzuhüllen, steht der Vollmond hoch am Himmel, umgeben von einer sternenklaren Nacht.                    

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@h.marsall